16.11.: NSU / Schneeberg / Redebeitrag

Seit dem Bekanntwerden des Nationalsozialistischen Untergrunds sind nun fast zwei Jahre vergangen. Trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse, dem laufenden Prozess gegen das verbliebene NSU-Mitglied Zschäpe und vier Unterstützer, sowie intensiver journalistischer und antifaschistischer Recherche gibt es mehr offene Fragen als Antworten. Weder ist der Ablauf der Morde und Anschläge, noch die Dimension des TäterInnen-Netzwerks annähernd vollständig erschlossen. Noch herrscht Klarheit über die Rolle staatlicher Institutionen, insbesondere der des Verfassungsschutzes.
Anhand drei aktueller Beispiele lässt sich dieser Umstand verdeutlichen:

1.Bei ihrem letzten Banküberfall in Eisenach hatten die beiden Terroristen Beute vorheriger Überfälle bei sich. Keinen geringen Betrag, sondern über 100.000 Euro. Die Geldmenge lässt wundern: wovon haben die drei untergetauchten Nazis gelebt, wenn sie einen so großen Teil ihrer Beute unangetastet lassen konnten?

2. Das Apabiz Berlin schätzt die Zahl der NSU-UntersützerInnen und -Kontaktpersonen auf ca. 200. Das sind 70 mehr, als auf einer Liste des BKA geführt werden. Und es sind weitaus mehr, als derzeit in München vor dem Oberlandesgericht auf der Anklagebank sitzen. Keiner dieser UntersützerInnen lebte im Untergrund. Viele sind offen agierende und keinesfalls unbekannte Nazis. Teile von ihnen verdienten sich als V-Person für ein Verfassungsschutzamt etwas dazu. Wie konnten sich die drei untergetauchten Nazis also einer Fahndung entziehen, obwohl sie rege Kontakte unterhielten und pflegten?

3. Eine 3. Frage die bisher unbeantwortete geblieben, betrifft den V-Mann des Bundesverfassungsschutzes mit dem Tarnname „Tarif“. Er galt als Topquelle und stand im Kontakt mit den Nazis des Thüringer Heimatschutzes. Hier waren auch die späteren NSU-Mitglieder aktiv. In einem Nazipamphlet schilderte „Tarif“ die Idee des führerlosen Widerstands auf Grundlage einer Zellenstruktur. Gelesen wurde es auch von den NSU-Mitgliedern – vor ihrem Untertauchen. Dass diese mit Tarif persönlich bekannt waren ist naheliegend und auch der Verfassungsschutz will dies nicht ausschließen. Nur wenige Tage nach der Enttarnung des NSU wurde die Akten des V-Manns Tarif ausplanmäßig vernichtet. Warum?

Diese Liste offener Fragen lies sich um etliche Punkte erweitern. An Material mangelt es jedenfalls nicht – nur an Antworten. Denn trotz – oder gerade wegen – der hohen Brisanz um die Aufklärung der Taten des NSU, fehlt es an politischem Druck. Mögen die Informationen noch so skandalös sein, eine tatsächliche Infragestellung und Änderung der politischen Verhältnisse, die den NSU möglich gemacht haben, ist derzeit nicht zu erwarten.

Vor dem Hintergrund dieses oft erwähnten, aber folgenlosen „Versagen der Behörden“ gerät einiges noch viel schneller in Vergessenheit: der strukturelle Rassismus der Ermittlungsbehörden. Dabei wurde dieser offensichtlich als PolizistInnen konsequent einen rechten Tathintergrund ausblendeten und stattdessen nur dem gesellschaftlich verankerten Stereotyp vom „kriminellen Ausländer“ folgten – und das in allen zehn Fällen. Verdächtig erschienen ihnen lediglich die neun Opfer des NSU, die als nicht-deutsche gelten. Der tödliche Terror der Nazis fand so seine Fortsetzung in den Anschuldigungen durch die ermittelnden Behörden und der medialen Berichterstattung. Und gerade aktuelle zeigt sich eine deutliche Verschärfung dieser rassistischen Zustände:
Wie auf Lampedusa in Form der europäischen Abschottungspolitik;
wie Hamburg oder Berlin in Form restriktiver deutscher Asylpolitik;
Wie in Leipzig-Wahren, Leipzig-Gohlis, Rackwitz, Greiz, Berlin-Hellersdorf, Duisburg, Bremen und Schneeberg in Form von rassistischen Bürgermobs;
Wie in Vockerrode, Leipzig-Thekla, der ZAST in Chemnitz in Form von Menschenunwürdiger und kriminalisierender Lagerunterbringung.

In Form von Residenzpflicht, Gutscheinsystem, Arbeitsverbot für Asylsuchende, Racial Profiling und rassistischen Polizeistatistiken, alltäglicher Diskriminierung bei der Wohnungssuche, Jobsuche, Einschulung und nicht zuletzt in Form von unterschwelliger oft unbewusster Diskriminierung von Betroffenen im alltäglichen Leben.

Dieser Rassismus und die Verhältnisse die ihn befördern waren die ideologische Keimzelle des NSU. Und dieser gesamtgesellschaftliche Rassismus in den Amtsstuben der Behörden, in den Redaktionen der Medien und im Alltagsbewusstsein der meisten Menschen war auch der größte und verlässlichste Bündnispartner auf dem mörderischen Feldzug dieser Naziterroristen.

Als radikale Linke, als Antifaschist_innen und Antirassist_innen kann es uns deshalb nicht nur um die Zerschlagung hetzender, brandschatzender und mörderischer faschistischer Banden gehen. Es muss ebenso darum gehen, der rassistischen Zuschreibung der Betroffenen dort den Kampf an zu sagen, wo sie beginnt. In den Medien, den Amtsstuben, vor Asylsuchendenunterkünften, Kulturzentren, Moschee und Synagogen – und in den Köpfen der Menschen.

Deshalb ist es wichtig, dass wir heute gegen diesen Rassismus auf die Straße gehen. Und uns wehren, gemeinsam mit und als Betroffene – und im Namen der Opfer, die nicht mehr unter uns sind.
Erinnern heißt Kämpfen – und Kämpfen heißt aktuelle nicht weniger als einen erneuten rassistischen Flächenbrand zu verhindern! Schließt euch antirassistischen und antifaschistischen Gruppen an und werdet aktiv für eine solidarische Gesellschaft.

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